„Die Bewertungen zentraler Fragestellungen in Unternehmen basieren nicht selten auf einem Bauchgefühl.”

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie bewertest du die folgende Aussage in Bezug auf dein Unternehmen?

Unsere Lieferfähigkeit und Time-to-Market passen zu den Bedürfnissen unserer Kunden.

[ ] (eher) zustimmend
[ ] neutral
[ ] (eher) ablehnend

Fabian Biebl
Organisationsberater Fabian Biebl

In der Umfrage, die unser Kollege und Organisationsentwickler Fabian Biebl mit Kolleg:innen der gemeinsamen Initiative Zukunftsfähigkeit und in Zusammenarbeit mit dem Magazin Elektronikpraxis entworfen und durchgeführt hat, antworteten 83 % der befragten Top-Entscheider auf diese Aussage zustimmend. Ganz anders das Bild im Middle-Management: Nur 39 % der Befragten aus dem mittleren Management stimmen dieser Aussage zu, 48 % antworten ablehnend.

Diese Diskrepanz in der Wahrnehmung zur Zukunftsfähigkeit des Unternehmens zwischen Entscheidern auf C-Level-Ebene und Vertretern des mittleren Managements zieht sich durch die Umfrage hindurch, an der 153 Beschäftigte teilgenommen haben. (Die vollständige Auswertung ist hier zu finden.)

„Was sich hier in den Umfrageergebnissen abzeichnet, spiegelt sehr gut das Bild wider, das wir sehen, wenn wir in die Unternehmen gehen und uns die verschiedenen Ebenen ansehen”, so Biebl.

Fabian, was hat euch dazu motiviert, die Initiative Zukunftsfähigkeit zu gründen und die Umfrage unter dem Titel „Zukunftsfähigkeit von Unternehmen” durchzuführen?

Die wirtschaftliche Krise stellt Anforderungen an Unternehmen, die weiterhin am Markt bestehen und zukünftigen Herausforderungen gewachsen sein wollen. Die stärker werdende Komplexität von Arbeitssystemen und Technologien bringt dabei für das Management besondere Herausforderungen mit sich, da altbewährte Lösungsstrategien nicht mehr wirken.

Ich möchte dem Mittelstand helfen, sich anzupassen und habe dafür die Initiative Zukunftsfähigkeit ins Leben gerufen, die mit einem Manifest der Zukunftsfähigkeit, viel Wissen und Kommunikationsmöglichkeiten zu einer Plattform werden soll, um modernen Managern Handlungsoptionen zu geben, wie sie ihre Unternehmen zukunftsfähig lenken können. In Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Elektronikpraxis haben wir deshalb auch diese Umfrage durchgeführt, in der wir Top-Entscheider, Middle-Manager und Mitarbeiter dazu befragt haben, wie sie die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen einschätzen.

Die Umfrage dient uns dazu, eigene Thesen und Beobachtungen durch ein Außenbild zu erweitern und das Unterstützungsangebot zu gestalten.

Was ist dir bei den Umfrageergebnissen besonders aufgefallen?

Der zentrale Zweck eines Unternehmens ist es, durch die Lieferung von Produkten oder Dienstleistungen Umsätze zu generieren. Dabei kommt es entscheidend darauf an, wann ein Produkt oder eine Dienstleistung fertiggestellt ist und dem Kunden somit einen Wert bietet.

Als Organisationsentwickler stelle ich fest, dass es erhebliche Unterschiede in der Wahrnehmung gibt, wann genau dieser Wert entsteht und wie die Innovationskraft des Unternehmens ausgerichtet werden soll. Ein gemeinsamer Blick im Unternehmen auf Ist-Position und zukünftige Herangehensweise wäre daher wünschenswert, ist jedoch nicht gegeben. Die Ergebnisse zu den ersten Fragen der Umfrage zur Lieferfähigkeit machen deutlich, dass die Bewertung zentraler Fragestellungen nicht selten auf einem Bauchgefühl basiert.

Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der Umfrage findet sich bei eurer Frage nach dem Veränderungsbedarf, den die Befragten bei ihrem Unternehmen sehen – einmal im Hinblick auf heute und im Hinblick auf die Zukunft. Wie ordnest du das Ergebnis ein?

Hier bestätigt sich zu einem Teil erneut die unterschiedliche Wahrnehmung zwischen den Hierarchieebenen. Während die Top-Entscheider ihre Unternehmen hier und heute zum Großteil noch als lieferfähig betrachten, bewerten das Middle-Management und die Teamebene die Situation deutlich kritischer.

Gegenüberstellung: So beurteilen Beschäftigte verschiedener Hierarchieebenen Lieferfähigkeit und Veränderungsbedarf in ihren Unternehmen (Bild: Initiative Zukunftsfähigkeit).

Diskrepanzen zwischen den Top-Entscheidern und der Belegschaft liegen in meiner Erfahrung oft daran, dass Aufgaben früh begonnen und delegiert werden, sodass die Verantwortung damit gefühlt erst einmal weitergegeben ist. Auf der operativen Ebene bedeutet dies jedoch, dass ein weiteres Arbeitspaket zusätzlich zu den bestehenden Aufgaben bewältigt werden muss. Hier entsteht dadurch oft der Eindruck, dass die Systeme überlastet sind und echte Erfolgserlebnisse – also das effektive Liefern von Wert – ausbleiben.

Diese Diskrepanz ist nicht unproblematisch. In einer komplexen Welt sind die Unternehmen zukunftsfähig, die es schaffen, die Innovationskraft ihrer Mitarbeitenden zu nutzen und sie zu dezentralen Entscheidungen zu befähigen – im Gegensatz zu jenen, die immer noch auf klassische Top-Down-Ansätze setzen. Wie die Umfrage zeigt, gehen die Einschätzungen zur aktuellen Situation zwischen den Ebenen jedoch stark auseinander, was verhindert, dass alle Kräfte gebündelt auf ein gemeinsames Problem hinarbeiten.

Beim Veränderungsbedarf mit Blick auf die Zukunft herrscht jedoch Einigkeit.

Das ist richtig – alle Gruppen stimmen darin überein, dass für zukünftigen Erfolg dringend Anpassungen erforderlich sind. Das Top-Management scheint diese Notwendigkeit in der Gegenwart noch nicht so dringlich zu sehen und setzt weiter darauf, das aktuelle Marktgeschehen vornehmlich gewinnbringend auszunutzen. Die Arbeitsebene sieht das häufig anders und möchte bereits jetzt, in wirtschaftlich noch guten Zeiten, Anpassungen vornehmen, bevor es zu spät ist.

Wie können Organisationsberater wie du dabei helfen, diese Diskrepanz der Lagebewertung zwischen den Organisationsebenen zu verringern und einen Weg für Unternehmen zu finden, der Erfolg verspricht und hinter dem alle Ebenen stehen können? Es ist ja sicherlich von Unternehmen zu Unternehmen eine sehr individuelle Angelegenheit.

Ich beschäftige mich schon länger mit der Frage, wie es dem Mittelstand gelingen kann, sich durch eine stärkere Zusammenarbeit aller Ebenen und mutigem unternehmerischem Handeln optimal für die Zukunft aufzustellen. Für mich bedeutet Zukunftsfähigkeit, welche internen Fähigkeiten ein Unternehmen besitzt, um sich kundenorientiert auf das Liefern von Wert zu konzentrieren. 

An solchen Fähigkeiten zu arbeiten ist leider nicht immer das attraktivste Ziel für Unternehmenslenker, die von ganz konkreten Problemen geplagt werden. Aus meiner Praxiserfahrung heraus stelle ich allerdings fest, dass sich sehr viele Symptome auf eine gemeinsame Ursache zurückführen lassen, für die wir jedoch keinen Namen haben. Mit dem Begriff „Zukunftsfähigkeit” möchte ich dem erstrebenswerten Zielzustand einen Namen geben.

Die Welt ist jedoch zu komplex für einfache Antworten, daher sehen wir es als Aufgabe, dem Management neue Handlungsoptionen aufzuzeigen, die dann flexible, individuelle Lösungen ermöglichen. Dabei erfinden wir das Rad nicht neu, sondern kombinieren gezielt Erkenntnisse aus Lean, Agile, Leadership und kulturbewusster Organisationsentwicklung, um Führungskräften dabei zu helfen, die Rentabilität ihrer Unternehmen zu gewährleisten.

Ein Punkt, auf den wir auch schauen sollten, wenn es um die Diskrepanz zwischen den Organisationsebenen geht: Das gegenseitige Vertrauen. Was habt ihr dazu herausgefunden?

Umfrageergebnis zum Punkt "Richtige Entscheidungen"
Gegenseitiges Vertrauen und Entscheidungsmacht sind weitere Punkte, die vom Top-Management anders beantwortet werden als von den übrigen Gruppen (Bild: Initiative Zukunftsfähigkeit).

Die Antwort auf die Frage, ob Top-Entscheider ihren Mitarbeitern vertrauen, fällt erst einmal überraschend positiv aus. Wir hatten diese Frage leider nicht genauer spezifiziert. Wiederum aus der Praxis und dem direkten Gespräch mit Führungskräften bewerte ich die Antwort so, dass darin einerseits der Erfolg des eigenen Führungsverhaltens gemessen wird und andererseits das Vertrauen in den Mitarbeiter am aktuellen Einsatzort in der aktuellen Arbeitsweise bewertet wird. Oder kurz: Im aktuellen Arbeitsmodus entfaltet sich der Mitarbeiter den Erwartungen entsprechend. Ob damit auch die Erwartung an die Gestaltung des Arbeitsumfeldes und das dazu nötige Gesamtverständnis einhergeht, ist eher fraglich.

Die Umfrageergebnisse legen nahe: Das Vertrauen wird durch das Middle-Management und die Teamebene nicht erwidert. Das Top-Management ist zu weit weg und wird in seinem Wirken als zu abstrakt wahrgenommen. 

Besonders eklatant sichtbar wird dies bei der Frage, ob Entscheidungen von den richtigen Personen gefällt werden – was Top-Entscheider laut eurer Umfrage für sich verbuchen, was jedoch von der Belegschaft aberkannt wird.

Absolut. Zukunftsfähige Unternehmen müssen in der Lage sein, schneller als die Konkurrenz zu entscheiden und das Risiko einer frühen Fehlentscheidung durch im Schnitt bessere Time-to-Market aufzuwiegen. Solche Entscheidungen sind heutzutage nicht mehr zentral möglich. Darum belässt eine Führung über Vision und Strategie (z.B. mit OKR) einen Großteil der Entscheidungen dort, wo auch die konkrete Arbeit liegt.

So ein hohes Maß an Vertrauen bekommt man ohne ein sehr großes Maß an Transparenz über Arbeitslast und systemische Flusssteuerung aber nicht hin. In der Arbeitsweise müssen deshalb Teams, Interaktionen und Ende-zu-Ende-Wertströme sichtbar gemacht und mit klaren Kommunikationsregeln unterfüttert werden. Ich persönlich bin hier großer Fan von Kanban und Flight Levels.

Wie könnte das Vertrauen zwischen den verschiedenen Hierarchieebenen gestärkt werden, insbesondere zwischen dem Middle-Management und dem Top-Management?

Das ist natürlich individuell sehr unterschiedlich, aber auch hier gibt es Erfahrungswerte. Ich blicke dabei besonders darauf, ob mit passendem Führungsstil und Strategie geführt wird. Und ob ein hohes Level von Transparenz schnelle Entscheidungen ermöglicht. Beides Punkte, die auf Vertrauen einzahlen, welches für den Umgang mit komplexen Umgebungen zwingend erforderlich ist, da Einzelpersonen keinen systemischen Überblick mehr haben können.

Du sprichst hier erneut das Vertrauen an. Kannst du konkretisieren, was du unter einem „passenden Führungsstil” verstehst und wie beides zusammenhängt?

Vertrauen in das Management und die Unternehmensstrategie ist ja nicht einfach nur etwas, das von selbst entsteht. In der Praxis kann ich beobachten, dass es dann gut passt, wenn die Führungsebene es schafft, Vision und Strategie gut zu kommunizieren und dann die Freiräume schafft, die es der Belegschaft ermöglichen, möglichst eigenverantwortlich diese Ziele zu erreichen und damit wiederum zu beweisen, dass das investierte Vertrauen gerechtfertigt ist.

Umfrageergebnis zum Punkt "Wunsch nach einer Vision oder einer Strategie"
Der Wunsch nach einer Vision oder Strategie ist bei der Mehrheit der Befragten im Middle-Management und auf Teamebene vorhanden (Bild: Initiative Zukunftsfähigkeit).

Solch ein katalytischer Führungsstil, der eher darauf ausgerichtet ist zu befähigen, fehlt der Umfrage nach häufig. Wie sich gezeigt hat, wünschen sich sowohl Middle-Management als auch Teamebene mehr Führung über Vision und Strategie. Da gerade das Middle-Management als Vermittlerrolle (noch) so wichtig ist, multiplizieren sich Verständnisprobleme natürlich aus. Auch ein Grund, warum an vielen Stellen die Top-Entscheider das Gefühl haben, ihr Unternehmen fühlt sich an wie ein Betonklotz am Bein, der sich nicht mehr fortbewegen will.

Hast du eine Ahnung davon, worauf die meisten Menschen schauen, wenn sie die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens beurteilen? Und was macht für dich ein Unternehmen zu einem zukunftsfähigen Unternehmen? 

Es wird viel darauf geschaut, ob ein Unternehmen eine aktuelle Schlüsseltechnologie nutzt oder einem neuen Megatrend folgt. Das ist auch wichtig, jedes Unternehmen gestaltet damit seinen Markt. Ob es aber in der Lage ist, sich dementsprechend anzupassen, liegt darin, wie es im Inneren aufgebaut ist, wie entschieden und kollaboriert wird und wie Arbeit durch das System fließt. 

Umfrageergebnis zum Punkt der Veränderungsfähigkeit des eigenen Unternehmens.
So bewerten die Vertreter der drei Gruppen die Veränderungsfähigkeit ihres Unternehmens (Bild: Initiative Zukunftsfähigkeit).

In der Umfrage haben wir die Frage gestellt, wie anpassungsfähig das Unternehmen an zukünftige Herausforderungen aufgestellt ist. Auch hier gibt es wieder die stark unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen Top-Entscheidern und der Arbeitsebene. Eine solch massive Diskrepanz lässt kaum vermuten, dass richtige Entscheidungen von den richtigen Personen getroffen werden können und dass diese auch befähigt sind, diese umzusetzen.

Nicht nur der Blick auf die Fähigkeiten zur Veränderung in der Zukunft geht auseinander, auch die Einschätzung über den Erfolg bisheriger Versuche unterscheidet sich. Vielleicht liegt dies daran, dass zwar viel Veränderung gestartet wurde, diese Themen sich aber nicht durch alle Schichten durchsetzen und sich auch in der Unternehmenskultur verankern.

Das zukunftsfähige Unternehmen schafft es, die Kluft zwischen den Ebenen zu überbrücken und durch passende Führung zu gewährleisten, dass die richtigen Entscheidungen dort getroffen und umgesetzt werden, wo sie relevant sind: Dort, wo auch die Arbeit ist.

Was wünschst du dir für Unternehmen mit Blick auf deren Zukunftsfähigkeit?

Das, was ich zur Zeit am häufigsten rate, ist: Nehmt euch Zeit, um über Zukunftsfähigkeit zu reden. Kaum ein Top-Entscheider hat diese Zeit für Neues und kommt deshalb nicht zu eigentlich heiß ersehnten Handlungsoptionen.

Wirklich hilfreich ist es, einen Blick von außen einzubeziehen. Das gelingt beispielsweise durch eine gute Moderation in Workshops mit Vertretern aller Ebenen. Dann lässt sich Veränderung gemeinsam planen und knackig durchziehen, damit sich solche Vorhaben nicht über die Zeit schon deshalb totlaufen, weil Erfolge ausbleiben.

Wir werden an diesem Thema weiter dranbleiben und über Konferenzbeiträge, Artikel und Webinare Möglichkeiten zum Gespräch bieten und passende Wege finden, Unternehmen mit diesen Themen zu helfen.
Natürlich freue ich mich auch sehr darüber, wenn mich jemand persönlich anspricht.

Vielen Dank für das Gespräch!

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