Modell einer Wirbelsäule

„Das mittlere Management fungiert als Bandscheibe der Organisation.”


Das folgende Gespräch zwischen Pascal Gugenberger und Carolin Fiechter fand im Anschluss an ein Leadership-Training statt, das Pascal als Agile Leadership Journey Guide regelmäßig gibt. Carolin war im Training zu Gast als Expertin und hatte dort mit dem Bild des mittleren Managements als „Bandscheibe der Organisation” bei den Teilnehmer:innen einen Nerv getroffen.

Wir beobachten, dass Menschen mit einer Position im mittleren Management unter sehr großem Druck stehen

Carolin Fiechter
Carolin war selbst Geschäftsführerin und beschäftigt sich heute als Organisationsberaterin mit den Herausforderungen des mittleren Managements.

Carolin war selbst jahrelang als Gründerin und Geschäftsführerin tätig und kennt die Situation verschiedener Management-Positionen daher sowohl von innen, als auch von außen in ihrer heutigen Rolle als Organisationsberaterin. Nachdem sie vor einigen Jahren selbst an einem Burnout litt und gezwungen war, das Verhältnis von Eigen- und Fremderwartung für sich wieder neu zu ordnen, hat sie sich zunehmend mit der Frage beschäftigt, warum gerade Gründer und Führungskräfte auf mittlerer Hierarchieebene so gefährdet sind, aufgrund ihrer Arbeit psychisch zu erkranken.

Auch Pascal kennt die besonderen Herausforderungen dieser Position aus seiner Zeit als Director Research & Development.
Als Caro im Training das Bild der „Bandscheibe” zur Beschreibung der Situation des mittleren Managements in Unternehmen verwendet, stößt dies unmittelbar auf großen Zuspruch bei den Teilnehmenden. „Es war sehr augenöffnend zu beobachten, wie sich diejenigen mit Hintergrund im mittleren Management sofort mit dieser Metapher identifizieren konnten”, so Pascal.

Caro, du hast dich viel mit der Rolle des Managements auf mittlerer Hierarchieebene in Organisationen beschäftigt. Was ist das Besondere an der Situation des mittleren Managements?

Carolin: Wenn wir mit einem funktionslogischen Blick auf das mittlere Management schauen, haben wir es mit einer Zwischen-Position zu tun, die als Bindeglied fungiert zwischen der Unternehmensleitung und den Mitarbeitenden. Damit steht das mittlere Management zwischen zwei Organisationsebenen, für die die jeweilige Rolle klar abgesteckt ist: Die übergeordnete Ebene trifft Entscheidungen, insbesondere strategische, die untergeordnete führt aus.
Die Aufgabe dieser Zwischenposition besteht nun darin, in beide Richtungen zwischen den Ebenen zu vermitteln: Zum einen „von oben nach unten” durch das Übersetzen von  strategischen Entscheidungen und Führungsanweisungen der Unternehmensleitung (oder einer anderen übergeordneten Hierarchiestufe) in operative Entscheidungen sowie durch das Ableiten von Arbeitsanweisungen.
Zum anderen „von unten nach oben” durch das Aggregieren, Bewerten und Weiterleiten von Rückmeldungen der Mitarbeitenden zu inhaltlichem Fortschritt, zu offenen Punkten, zum Prozess oder zum organisationalen System.

Pascal trifft in seinen Trainings der Agile Leadership Journey™  häufig Managerinnen und Manager, die von einer sehr großen Belastung sprechen.

Aufgrund dieser vermittelnden Zwischen-Position wird oft von der „Sandwich-Position” des mittleren Managements gesprochen. Du hast heute als Gast in meinem Kurs eine drastischere Metapher dafür gebraucht. Du sprichst von der „Bandscheibenfunktion” des mittleren Managements. Warum?

Carolin: Das Bild der Bandscheibe, die in unserem Rückgrat dafür sorgt, dass die Wirbelknochen, die ständigem Druck von oben und unten ausgesetzt sind, nicht extrem schmerzhaft aufeinanderprallen und überdies beweglich bleiben, eignet sich hervorragend für einen Vergleich mit dem mittleren Management.
Denn zu dem reinen fachlichen und organisatorischen Übersetzen der Belange in beide Richtungen kommt auch das Vertreten der Meinung jeder dieser Parteien gegenüber der anderen – was leicht zu inneren Konflikten führt: Im mittleren Management muss ich möglicherweise Führungsentscheidungen mittragen und weitergeben, hinter denen ich nicht stehe. Gleichzeitig erwarten meine Mitarbeitenden von mir, dass ich ihre Wünsche und Forderungen bei der Unternehmensleitung vertrete und sichtbar mache – auch in Zeiten, in denen diese dort keine Priorität genießen.

Wir haben es also mit einer Position zu tun, die nicht nur große funktionale Herausforderungen mit sich bringt, sondern auch emotional eine permanente Belastungsprobe sein kann. Dass dies nicht nur gefühlt so ist, sondern ein Fakt, zeigen Erhebungen* zur Verteilung von Burnout-Erkrankungen, laut denen das mittlere Management zu 50 % mehr von Burnout betroffen ist als z.B. das Management auf C-Level.  

Carolin: Absolut, hier sind die Zahlen erschreckend eindeutig. Was die Position des mittleren Managements potentiell so problematisch macht, ist, dass sie eindeutig eine Pufferposition einnimmt zwischen den Erwartungen zweier unterschiedlicher Seiten. Die Gefahr besteht, dass diese gegensätzlichen Erwartungen nun an die eigene Person geknüpft und verinnerlicht werden, sodass eine Distanzierung immer schwerer fällt.

Hast du da Beispiele vor Augen? Wie sieht das konkret aus?

Carolin: Wir kennen sicher alle genug Beispiele dafür, dass die Vorstellungen und Wünsche von Unternehmensleitung und Top-Management nicht immer deckungsgleich mit den Vorstellungen und Wünschen der Mitarbeitenden sind. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Die Unternehmensführung hat eine größere Zahl an KPIs definiert, die erfüllt und regelmäßig in einem bestimmten Format berichtet werden sollen. Die Mitarbeitenden empfinden einen Teil dieser Kennzahlen als sinnlos oder irreführend und sind vom zusätzlichen Reporting-Aufwand genervt.

Dieses Vertreten der Belange beider Seiten und das Abpuffern der bestehenden Konflikte erfordert diplomatisches Geschick sowie Verständnis und Loyalität beiden Seiten gegenüber. Doch gerade wenn ich das habe, kann das “Abpuffern” schmerzhaft sein. Wenn ein dauerhaftes Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Unternehmensführung und der Mitarbeitenden besteht, wird dieser Job schnell zur Dauerbelastung. 

Du hast den Loyalitätskonflikt angesprochen. Der deutet auf das innere Spannungsverhältnis hin.

Carolin: Exakt. Ich möchte als Manager:in meinem Arbeitgeber gegenüber loyal sein, aber auch meinem Team gegenüber. Ich habe dabei keine Chance, mich auf eine Seite zu konzentrieren, sondern muss permanent austarieren.
Das Organisationssystem eines Unternehmens ist nie vollständig optimal. Als Bindeglied erkenne ich als Manager:in im mittleren Bereich häufig systemische Probleme, da ich mit deren Symptomen permanent konfrontiert bin. Ich habe ein großes Interesse daran, dieses System zu verbessern, aber eben nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten. Auch das kann zu großem Frust und Stress führen.

…Was im schlimmsten Fall zu einer Burnout-Erkrankung der Betroffenen führen kann. Kannst du konkretisieren, wie sich der Burnout auswirkt?

Carolin: Burnout bedeutet zunächst, dass ich meine aktuelle Lebens- und Arbeitssituation nicht mehr bewältigen kann. In einfachen Worten: Es ist zu viel für mich. „Zu viel” ist dabei das Ergebnis einer Abwägung von „Was muss ich leisten” gegenüber „Was kann ich leisten”. 

Das „Was kann ich leisten” wird geringer, je höher mein dauerhafter Stress-Level ist und je geringer mein tatsächlicher Wirkungsspielraum ist. Konkret: Der oben geschilderte Loyalitätskonflikt und der Druck von zu viel Erwartungen können Stress erzeugen und mein Entscheidungsraum in der Organisation kann kleiner sein, als er es müsste, um meine Vorstellungen umsetzen zu können.

Das „Was muss ich leisten” ist die Kombination aus den Erwartungen, die ich an mich gerichtet spüre und denen, die ich an mich selbst stelle. Also beispielsweise, die wahrgenommenen Spannungen zu lösen, die Interessen meiner Mitarbeitenden bei der Unternehmensführung durchzusetzen, die Vorstellung der Unternehmensleitung durch entsprechende Führung meiner Mitarbeitenden umzusetzen, für hohe Mitarbeitendenzufriedenheit zu sorgen, meine Mitarbeitenden bei ihrer fachlichen und Karriere-Entwicklung zu unterstützen, meine Kolleg:innen zu unterstützen und bei Bedarf zu vertreten, die Organisation weiterzuentwickeln, neue Prozesse oder Tools einzuführen, dabei idealerweise die Produktivität voll aufrecht zu erhalten, für kurzfristige Anfragen verfügbar sein, mehrere Projekte gleichzeitig betreuen oder selbst bearbeiten…

Das Burnout-Syndrom, Definition durch die WHO

Mit der am 1. Januar 2022 in Kraft getretenen ICD-11 gibt es eine offizielle Definition von Burnout durch die WHO (unter QD85):

„Burnout ist ein Syndrom, das als Folge von chronischem Stress am Arbeitsplatz konzeptualisiert wird, der nicht erfolgreich bewältigt wurde. Es ist durch drei Dimensionen gekennzeichnet:

1) Gefühle der Energieerschöpfung oder Erschöpfung
2) Erhöhte mentale Distanz zur Arbeit oder Gefühle von Negativismus oder Zynismus in Bezug auf die Arbeit
3) Ein Gefühl der Ineffektivität und des Mangels an Leistung.

Burnout bezieht sich speziell auf Phänomene im beruflichen Kontext und sollte nicht zur Beschreibung von Erfahrungen in anderen Lebensbereichen verwendet werden.”

So, wie Du schilderst, klingt das tatsächlich nach einer überwältigenden Herausforderung. Wie können Manager denn vermeiden, im Burnout zu landen? Was würdest du ihnen als früher selbst Betroffene raten?

Carolin: Wir müssen versuchen, den oben beschriebenen Dauerstress durch zu viele Erwartungen einerseits und die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und realen Wirkungsmöglichkeiten andererseits zu lösen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Wie würdest du vorgehen, um das zu erreichen?

Carolin: Die folgenden 5 Schritte helfen zur Orientierung:

1. Erwartungen explizit machen und bewusst wählen, wofür ich mich verantwortlich fühle.
Ich würde jedem empfehlen, sich alle internen und externen Erwartungen aufzuschreiben und sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Existiert diese externe Erwartung so tatsächlich? Was steht vielleicht dahinter? Möchte ich diese Erwartung für mich annehmen? Sind die Erwartungen, die ich an mich selbst stelle, wirklich sinnvoll und realistisch?
Der gefühlte Druck wird sich so reduzieren, wenn ich erkenne, dass die externen Erwartungen weniger widersprüchlich zueinander oder sogar deckungsgleich sind, und wenn ich mich bewusst entscheide, welche dieser Erwartungen ich wirklich annehmen und erfüllen möchte.

2. Fronten selbst wählen. Wo will ich wie viel Zeit und Energie investieren?
In einem zweiten Schritt sollte ich meine Fronten gezielt auswählen: Wir sehen in einer Organisation vieles, das „besser” sein oder laufen könnte. Alles gleichzeitig zu adressieren wird zu Chaos führen, nicht zum Erfolg. Am sinnvollsten ist es daher, mich bewusst auf eine Sache zu fokussieren, die entweder für die Organisation, für mich selbst oder zur Lösung des aktuell dringlichsten Problems gerade am wichtigsten ist. Gleichzeitig wird sich der von mir gefühlte Druck so weiter reduzieren, da sich meine eigene Erwartung an die Menge meiner gleichzeitigen „Baustellen” deutlich reduziert.

3. Loyalitätskonflikt sichtbar machen.
Als nächstes lässt sich der beschriebene Loyalitätskonflikt durch Transparenz in beide Richtungen entschärfen: „Ich verstehe, dass du die Erwartungen X, Y, Z an mich hast. Gleichzeitig solltest du wissen, dass von der anderen Seite die Erwartungen A, B, C an mich gerichtet werden. In diesem Rahmen handle ich bestmöglich.”
Der gefühlte Druck wird hier reduziert, indem die externen Erwartungen ausgesprochen und eingeordnet werden. Es wird für alle Seiten erkennbar, dass wahrscheinlich nicht alle Erwartungen gleichzeitig erfüllbar sind. Dabei positioniere ich mich nicht auf eine Seite, sondern zeige, dass ich auf beiden Seiten stehe und ein echtes Interesse an einer Win-Win-Situationen habe.

4. Für sich selbst und damit für die eigene Leistungsfähigkeit sorgen.
Nicht zuletzt ist es extrem wichtig, dass ich gezielt für mich selbst sorge. Wir neigen oft dazu, „Selfcare” als esoterisch angehaucht abzutun oder als Zeichen von Schwäche misszuverstehen. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Ich kann mittel- und langfristig nur dann leistungsfähig sein, wenn ich meine individuellen Bedürfnisse und natürlichen Grenzen respektiere im Hinblick auf z.B. Abschalten, Entspannung, Bewegung, Ernährung, Schlaf oder soziale Beziehungen. Wenn ich das regelmäßig nicht tue, verringere ich signifikant die Qualität und damit den Wert meiner Arbeit und führe damit meine zusätzlich aufgebrachte Energie und die geleisteten Überstunden ad absurdum.

5. Mehr Handlungsflexibilität durch das Herausarbeiten von Bedürfnissen hinter den Erwartungen schaffen.
Wenn ich mir mit diesen Schritten eine solide Basis geschaffen habe, kann ich die frei gewordene Energie nutzen, um bewusst als Mediator zwischen meinen Vorgesetzten und meinen Mitarbeitenden zu agieren. Dazu ist es wichtig, die Bedürfnisse zu verstehen, die hinter den Standpunkten und Erwartungen der Beteiligten stehen: Hinter der Forderung nach detailliertem Reporting steht vielleicht Unsicherheit, ob ein Ziel erreicht werden kann, vielleicht Anforderungen von der nächsthöheren Hierarchiestufe, vielleicht Unklarheit über das, was das Team tut, vielleicht der Wunsch, den eigenen Vorgesetzten auf dem Laufen halten zu können, vielleicht ein Cash-Flow-Problem in der Vergangenheit oder auch etwas ganz anderes.

Wenn es mir gelingt, die Bedürfnisse hinter den Erwartungen aus beiden Richtungen zu identifizieren, öffnet das die Chance, einen neuen gemeinsamen Weg zu finden. So kann in diesem Beispiel aus einem zunächst geforderten umfangreichen On-Top-Reporting ein weitgehend automatisierter Bericht aus Bestandssystemen mit zusätzlichem Confidence-Vote und Risiko-Schlaglicht werden, die gleichzeitig auch als Bestandteile von team-internen Plannings und Retrospektiven unmittelbaren Nutzen für die Teams bringen können.

Das klingt nach einer echten Win-Win-Situation. 

Carolin: Ja, genau darum geht es. Eigentlich ist es sogar eine Win-Win-Win-Situation: Immer, wenn ich es schaffe, solche externen Erwartungen zu alignen, also zu erreichen, dass sie weniger widersprüchlich oder sogar deckungsgleich sind, reduziere ich damit signifikant den Druck auf mich selbst. Sprich: Ich habe wieder mehr Energie, um andere Dinge zu adressieren, und kann meinen Job deutlich besser und mit mehr Leichtigkeit erledigen. 

Vielen Dank, Caro!

*Referenzen:
„UK Working Lives: Survey Report,” CIPD Research Reports (2018).

„Anxious? Depressed? You might be suffering from capitalism: contradictory class locations and the prevalence of depression and anxiety in the USA.”
SJ Prins, LM Bates, KM Keyes, C Muntaner. Sociology of health & illness 37 (8), 1352-1372.

„Mittleres Management ist besonders stressgefährdet” (aerzteblatt.de)

„Die Sandwich-Position ist noch verhasster als gedacht” (WirtschaftsWoche)

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